ZEICHEN IM HOLZ
Notwendige Anmerkungen über das Schlagen in Holz
und über Formen der Kommunikation
von Philipp Maurer
Wesentlich an der Person Michael Schneider und an seiner Arbeit sind die internationalen Bezüge bzw. die Internationalität seiner Denk- und Arbeitserfahrungen, die mit der internationalen Anerkennung des Werkes korrespondiert. Nach seinem Abschluss an der Akademie der bildenden Künste in Wien bei Prof. Maximilian Melcher studierte Michael Schneider vier Jahre in Japan. Er strebte nach seiner ausführlichen und konzentrierten Beschäftigung mit dem Holzschnitt während seiner Zeit an der Wiener Akademie nun nicht an, ein „japanischer“ Holzschneider zu werden, vielmehr suchte er japanische Technik und Ästhetik mit seinem europäischen Denken zu vereinigen, sie in einer weltweit verständlichen Synthese aufzuheben. Dass ihm dies gelungen ist, zeigen Preise, Auszeichnungen, Ausstellungen und Anerkennung in Asien und Europa.
Michael Schneiders künstlerisches Thema ist eines, mit dem sich im 20. Jahrhundert Kunst und Philosophie intensiv beschäftigten und das in der europäischen Geistesgeschichte eine lange Tradition hat: das Zeichen, seine Vieldeutigkeit und Interpretierbarkeit. Damit begibt sich Michael Schneider ins Zentrum der Diskussion über Kommunikation, Botschaft und Politik, in dem sein künstlerisches Mittel, der Holzdruck, von Anfang an stand. Denn der Holzschnitt, Druckgraphik ganz allgemein, war die erste Technik der massenweisen Kommunikation, sie hatte jene gesellschaftliche Funktion, die heute von Massenmedien und Internet in zeitgemäßer Technologie erfüllt wird. Und die Diskussion darüber war und ist immer eine über den Einsatz der Mittel, über die Kanalisierung und Dienstbarmachung von Kommunikation und bezweckte, unbeeinflussbare Kommunikation zu unterbinden.
Die offene Vieldeutigkeit der Zeichen war schon Thema der frühen Holzschnitte Michael Schneiders, während seiner Akademiezeit in Wien, als er noch mit den traditionellen Werkzeugen traditionell ins Holz schnitt. Landschaftliches, Florales, Gitter und Zäune, musikalische Notationen waren Ausgangspunkt für Zeichenfindungen, die sich sprachlich nicht befriedigend erschließen lassen, die also nicht nur, im Sinne Paul Klees, Unsichtbares sichtbar machten, sondern auch bildlich Gedachtem bildliche Materialität verliehen, die eine emotionale und intellektuelle Welt abseits der Zweckrationalität erschlossen. Michael Schneider erarbeitete abseits der notwendig eindeutigen Lesbarkeit standardisierter Zeichen eine lesbare Welt der Vieldeutigkeit.
Die Beschäftigung mit den Zeichen intensivierte Michael Schneider in Japan, wo er eine neue Welt vieldeutiger Zeichen kennen lernte: die japanischen Schriftzeichen, aus dem Chinesischen übernommen, bezeichnen mit einer Form unterschiedliche Dinge, sind also vieldeutig und nur im Zusammenhang, und das nicht immer eindeutig, lesbar. Ein für das japanische Denken charakteristisches Beispiel ist der Name des Berges Fuji, der nicht in einer Deutung benannt ist, aber, indem er verschiedene Bedeutungen für das Wortzeichen Fuji eröffnet, die Besonderheit dieses Berges erfasst.
Vieldeutigkeit, Interpretierbarkeit, Rätselhaftes charakterisieren Kunstwerke in ihrer Bedeutung für uns, machen ihre besondere Qualität aus. Archaische Höhlenzeichnungen, Felsritzungen, Steintafeln haben ihren Reiz für uns Heutige durch ihre Unverständlichkeit, ihre Interpretierbarkeit. Und sie deuteten auch für die Menschen, die diese Zeichen angefertigt und gelesen haben, nicht nur auf ein Bestimmtes, sondern stellten die Beziehung her zwischen den Ebenen des Faktischen und des Gedachten, waren Symbole, sichtbar gewordene Magie und erwünschte Faktizität.
Die italienischen Maler der Frührenaissance liebten es, rätselhafte Symbole und Elemente in ihren Bildern unterzubringen. Die Entschlüsselung gelang nur einem klugen, genau beobachtenden Kopf, der überdies mit dem geistigen Erbe des Abendlandes, also mit der Bibel, ihren unendlich vielen Auslegungen, mit der klassischen Mythologie und dem klassischen Schrifttum, vertraut war. Enträtselung gelang in der rational denkenden und malenden Frührenaissance also über Wissen, das Rätsel war ein intellektuelles und es war prinzipiell lösbar. Die Hochrenaissance schuf ihre Rätsel bereits im psychologischen Bereich: das unsägliche, unbeschreibliche Lächeln der Mona Lisa appelliert an das Gefühl des Betrachters, auf das Lächeln zu antworten; die Antwort allerdings verbleibt ebenso im unsäglichen, mimischen Bereich. Dürer vereinigt in seiner Radierung „Melencolia“ beide Elemente: das emotionelle Rätsel der nachdenklich sitzenden Frauenfigur, die intellektuellen Rätsel der mathematischen Symbole und naturwissenschaftlichen Geräte, ergänzt durch die Zeichen der Esoterik.
Kunstwerke fordern zur Kommunikation auf: der Betrachter ist angewiesen, die Botschaft für sich selbst zu interpretieren, das Kunstwerk im Anschauen, Miterleben, Analysieren zu vollenden. Das moderne Kunstwerk ist, wie Umberto Eco in seinem ästhetischen Grundsatzwerk „Opera aperta“ (Milano 1962) nachwies, ein offenes, ein Mittel einer Kommunikation, die nicht eine Einbahnstraße, sondern ein Dialog ist.
Druckgraphik ist die Kunst, sich vielen mitzuteilen. Diese Mitteilung kann sehr eindeutig, aber auch äußerst vieldeutig sein: eindeutig war die Mitteilung eines salzburgischen Holzschnitzers um 1390, der zweidimensionale Entwürfe seiner dreidimensionalen Madonnen und Kruzifixe in Holz schnitt und als gedruckten Werbezettel interessierten Äbten unterbreitete, um Aufträge für Holzschnitzereien zu lukrieren. Bewusst mehrdeutig ist die Mitteilung Dürers in seinen Holzschnittserien zur Apokalypse und zum Marienleben: Diskussionsbeiträge in der aktuellen Debatte über Ideologie, Religion und Politik.
Die Theoriebildung über bildhafte Kommunikation gewinnt ebenfalls in der Renaissance, ausgelöst und angeregt durch Holzschnittarbeiten wie die Illustrationen zu Sebastian Brants „Narrenschiff“ und zur „Schedelschen Weltchronik“ aus Nürnberg, eine neue Dimension. Auch hier wird das Spannungsfeld zwischen Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit sichtbar. Die expressionistischen Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die gesellschaftlich verordneten Zeichen in ihrer inhaltlichen Normierung immer diskrepanter zu den Bedürfnissen der Adressaten wurden, griffen auf die Deutbarkeit archaischer Zeichen als künstlerischen Wert zurück: Lächeln und Schrei sind appellative mimische Mitteilungen mit vielfachen Bezügen, vom Betrachter zu interpretieren.
In der Erzeugung von Vieldeutigkeit geht Michael Schneider einen Schritt weiter, als der Holzschnitt zu erlauben scheint. Der traditionelle Holzschnitt kennt nur die scharf, nämlich messerscharf voneinander abgetrennten Bereiche Schwarz und Weiß. Diese Abtrennung geschieht gleichermaßen durch den Schnitt mit dem Messer wie durch den Druck mit der Tiegel- oder Walzenpresse. Michael Schneider dagegen schneidet nicht, sondern schlägt mit dem Stein ins Holz, er druckt nicht mit der Presse, sondern mit dem Ballen. Durch das Schlagen mit dem Stein entstehen keine scharfen Kanten, sondern schräge Flächen, quasi „Abhänge“, die eingefärbt werden; beim Drucken mit dem Ballen und dem Tampon werden die „Abhänge“ individuell „abgetastet“ und geben daher je nach Druck Farbe an das über dem Holzstock liegende Papier ab. Diesen Vorgang des Druckens kontrolliert und steuert Michael Schneider genau. Jeder Abdruck vom Holzstock ist daher ein individueller Abzug, eine Möglichkeit der Abbildung des Stockes unter vielen. Die Form und der Ausdruck des fertigen Bildes werden also nicht nur beim Schlagen, sondern auch beim Drucken selbst entwickelt.
Die offene Vieldeutigkeit der Zeichen in der Kunst steht im Gegensatz zu jener Eindeutigkeit bzw. normierten Mehrdeutigkeit der Zeichen, die die Industrie- und Kommunikationsgesellschaft des 20. Jahrhunderts anstrebt. Eindeutig etwa muss ein Verkehrszeichen sein (und ist es nur für jene, die es erlernt haben), aber geplant vieldeutig sind die Zeichen der Werbung, die die eindeutige Aufforderung zum Kauf einer eindeutig bezeichneten Ware mit dem Appell an viele und nur unklar bezeichnete Wünsche verbindet.
Die bearbeiteten Holzstöcke bezeichnet Michael Schneider, durchaus in Anlehnung an ostasiatische Kultsteine, als „unentschlüsselte Tafeln“, den Reibeabdruck, ebenso in Anlehnung an die von Gläubigen und Wanderern für den Eigengebrauch, quasi als Souvenir, angefertigten Abreibungen von Kultsteinen auf Papier, als „Rekonstruktionen“. Michael Schneiders neue Mappe mit 10 Holzdrucken heißt daher konsequent „rekonstruktionen unenschlüsselter tafeln“. Die Arbeiten der Mappe entwickeln ästhetische Gedanken über das Verhältnis von der gefüllten, gestalteten zur leeren Fläche, über Mitteilungen von Landschaften und Musiken, von Notationen und Schriften. Wie jede Erkenntnis fortschreitet im Wechselspiel von neuen Erfahrungen, tastendem Verknüpfen, Überprüfen, Verwerfen, Neuformulieren - ein Prozess, der mit dem Zeichen der Spirale andeutend in ein Bild zu fassen ist - so führen auch Michael Schneiders „Tafeln“ weiter zu immer neuen Formen und kehren auf der letzten Tafel scheinbar zurück zur Form der ersten: am Ende der Mappe steht ein Blatt, das dem ersten sehr ähnelt, aber doch ganz anders ist, der Betrachter steht am selben Punkt, aber gewissermaßen auf einem anderen, höheren Niveau, um eine Erfahrung reicher. Dieser Umgang kann immer wieder wiederholt werden: erneuertes Sehen führt weiter in ein Reich der eigenen Psychologie, appelliert an das jedem Menschen eigene Archiv der Erinnerungen, Gefühle, Gedanken. Dieses eigene Archiv ist der individuelle Schlüssel zur individuellen Rekonstruktion unentschlüsselter Tafeln, zur Reise ins eigene Innere und zum eigenen Kultstein Kunsterlebnis.
Aus: WIENER KUNSTHEFTE, Zeitschrift für Druckgraphik, Nummer 2, Juni 2000, S. 1 u. 2
Prof. Dr. Philipp Maurer ist Verleger und Herausgeber des UM:DRUCK, Zeitschrift für Druckgraphik und visuelle Kultur, Wien.